Ein schwedisches Startup will die redaktionelle Arbeit revolutionieren: Eine neue „Story Engine“ soll viel genauer als bisher vorgeben, welche Themen in welchen Darstellungsformen und mit welchen Mitteln den Lesern schmackhaft gemacht werden.
Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte wusste man besser als heute, was die Leute gern lesen. Vor 30 Jahren fragte man die Leser einfach, was sie am liebsten lesen. Die Ergebnisse waren, natürlich, trügerisch: Wer gibt schon zu, dass er am liebsten die Unterwäscheanzeigen studiert und den Kulturteil gar nicht anguckt? Nach diesen Leserbefragungen („Copy-Tests“) kamen „Eyetracking“ und „Readerscan“. Aber auch hier befanden sich die Probanden in massiv verfälschenden Lesesituationen. Das ist inzwischen weitgehend Geschichte, man sieht im Internet viel besser, was die Leute wirklich lesen – und Analyseprogramme wie Google Analytics oder Chartbeat werten diese Daten passabel aus. Chartbeat tut das so gut, dass manche Redakteure regelrecht „chartbeatsüchtig“ sind.
Noch viel weiter als Chartbeat & Co. geht der Ansatz des Startups „Kit“ aus Stockholm. In einem Newsletter des Harvard-Instituts „NiemanLab“ haben die Gründer kürzlich die Prinzipien ihrer sogenannten „Story-Engine“ erklärt: Es geht darum, den redaktionellen Ablauf umzudrehen: erst die Maschine, dann der Autor! Gefüttert wird die Maschine zunächst mit unzähligen Daten zu bisherigen Artikeln und ihren Quoten. Erfasst wird dabei nicht nur, in welches Ressort ein Artikel fällt, etwa „Wissenschaft“. Sondern man differenziert und kategorisiert viel genauer, zum Beispiel nach „Krankheiten“ oder sogar nach „Krebs“ oder noch spezieller: „Bauchspeicheldrüsenkrebs“. Die Merkmale der Artikel werden laufend in 145 verschiedenen Klassifizierungen erfasst. Unter anderem enthalten sie auch so weiche Faktoren wie Darstellungsform, Ton, Absicht, Zielgruppe und so weiter, die man dann wieder mit den Themen kombiniert auswerten kann. Insgesamt sprechen Mitgründer Fredrik Srömberg und seine Mitstreiter von 43 Billionen Kombinationsmöglichkeiten.
Indem man die Merkmale genau erfasst, lässt sich auch besser sagen, was einen Artikel von anderen unterscheidet. Und natürlich zielt „Kit“ darauf ab, dass spätere Artikel die bisherigen Ergebnisse berücksichtigen und den Maßgaben der sich selbst aufbauenden „Story Engine“ folgen – übrigens nicht nur bei Artikeln, sondern auch auf Twitter, Facebook, Instagram oder YouTube. Die Gründer nennen als Beispiel ein Rezeptvideo, bei dem man aufgrund neuer Erkenntnisse die Darstellung stark verändert hat: Die Maschine hat nämlich herausgefunden, dass es schlecht ist, solche Videos mit einer Übersicht der Zutaten zu beginnen. Viel lieber haben es die Zuschauer, wenn die Videos direkt mit dem Rezept beginnen. Klar, dass diese Reihenfolge künftig die neue Maßgabe der „Story Engine“ für Rezeptvideos ist.
Trotz genauerer Vorgaben werden Autoren und Redakteure übrigens von der Maschine noch ermuntert, immer wieder Neues auszuprobieren. Nur so kann die „Story-Engine“ nämlich ermitteln, wie verschiedene Typen von Beiträgen bei den Nutzern ankommen. Innovation bleibt also Menschensache. Vielleicht ist das Traditionalisten ein kleiner Trost, wenn künftig die Story-Maschinen jedem Artikel Struktur und Ton vorgeben.