Die Ufer des Neckars sind anders als die des Orinoko!

Warum sagt eine Mehrheit im Genitiv „des Rheins“, aber nur eine Minderheit „des Mississipis“? Und ist das eigentlich falsch ohne Genitiv-s? Wir liefern Ihnen die Antworten auf einige Fragen zum Genitiv, die sich Ihnen bestimmt schon mal gestellt haben.

Von Stefan Brunn

Muss man das Genitiv-s immer setzen?
Darüber streiten sich die Gelehrten seit Ewigkeiten. Die einen meinen, man müsse dem Verschwinden des Genitivs etwas entgegensetzen, nämlich eine klare Norm. Die anderen halten solche Normen für aussichtslos und auch falsch: Die Sprache solle keine Obrigkeit haben, sie gehöre dem Volk. Klar ist aber, dass immer mehr Menschen in immer mehr Fällen aufs Genitiv-s verzichten.

Aber was sagt der Duden?
Der Duden verlangt das Genitiv-s. Eigentlich. Denn gleichzeitig stellt er es in vielen Fällen frei, das Genitiv-s zu verwenden. Dazu muss man wissen, dass der Duden eben keine amtlichen Vorgaben macht, sondern beschreibt, wie das Deutsche derzeit benutzt wird. Und da läuft der Trend mindestens seit Jahrzehnten gegen das Genitiv-s. In älteren Ausgaben forderte der Duden zum Beispiel noch das Genitiv-s bei den Wochentagen: „des Mittwochs“, jetzt ist er da entspannter.

In welchen Fällen wackelt das Genitiv-s?
Das sind inzwischen ganz schön viele Fälle, allen voran drei:
• Eigennamen und Titel (des Spiegels)
• Fremdwörter und technische Begriffe (des Leasings)
• Wörter mit einem Zischlaut am Ende (des Sozialismus‘)
Aber auch bei vielen anderen Wörtern kommt uns das Genitiv-s inzwischen ungebräuchlich vor. Kaum jemand sagt die Tages- oder Monatsnamen noch so: „am Abend des 4. Mais“. Und auch bei Kunst- und Stilepochen („des Biedermeiers“) oder geografischen Namen („des Kongos“) kommt uns eine Flexion heute eher fremd vor als eine Nullendung.

Woher kommt es, dass sich in einigen Bereichen mehr Nullendungen entwickeln?
Tja, wenn man das wüsste! Die Wissenschaftlerin Damaris Nübling, Professorin an der Uni Mainz, vertritt zum Beispiel die These, dass man auf das Genitiv-s eher verzichte, wenn das Wort ungeläufig sei. Die Sichtweise der SprecherInnen wäre demzufolge so: Wenn schon das Wort exotisch klingt, dann klingt es mit einem Genitiv-s total bescheuert bzw. falsch – also lasse ich es lieber weg! Die Professorin belegt diese These mit geografischen Begriffen. So sagt man durchaus „des Balkans“ (77 %), aber ungern „des Jemens“ (17 %). Ähnlich bei Flüssen: Beim Rhein liegt die Nullendung nur bei 0,06 %, beim Mississippi bei happigen 94 %. Ziemlich in der Mitte (Nullendung: 46 %) liegt übrigens Europa. Beispiel: „Die Macht eines mit einer Stimme sprechenden Europas“. Das Genitiv-s hatte in Nüblings Statistik beim Begriff „Europa“ noch knapp die Nase vorn. Die Zahlen sind aber von 2010, inzwischen kann die Mehrheit durchaus gekippt sein …